Page 37 - Bessunger Kerbeheft 2015
P. 37

wobei sie Zukunft mit Unendlichkeit verwechselten und neuerdings noch jugendlich Entspannte und radfahrende Radfahrer.
Ich habe zwar inzwischen gelernt, dass am Fuße meines Turms keiner mehr entspannt, sondern „chillt“ und nicht einer mehr Rad fährt, sondern mountain- oder citybikt, noch nicht gelernt habe ich aber, dass etliche der beiden Fraktionen die Wörter „Schonung“ und „Rücksichtnahme“ aus ihrem Wortschatz gestrichen haben.
Und so lassen die Chiller das zurück, was sie zu Hause par- tout nicht mehr brauchen können: leere Wodka-, Asbach- und Bierflaschen; Plastikbehältnisse in denen mal eine Art Nahrungsmittel gewesen sein muss, von irgendeinem Donald; Spritzen (vielleicht hatte einer Trombose) und kleine Gummitüten, die man wohl zum Aufblasen mitge- bracht hat oder zum über den Finger ziehen, ich weiß es nicht!
Und die Biker steigen erst gar nicht mehr vom Bike ab, weil biken übersetzt nunmal fahren heißt – oder drüberfahren, kaputtfahren, drauflosfahren oder umfahren. Für Besucher heißt das leider oft aber „Aus der Haut fahren!“
Und aufgrund dieser ganzen Vorkommnisse machen Bau- werke einfach das, was sie schon seit Jahrhunderten tun, sie lösen sich nach und nach in ihre Bestandteile auf. Die Mauern reißen zuerst und aus einem Löchlein wird ein Loch. Um diesem Verhalten Einhalt zu gebieten, wurden aus unserer wissenschaftlichen Stadt (wissenschaftlich über- setzt heißt: der Hände Arbeit liegt brach) in den letzten 15 Jahren viele Persönlichkeiten zu mir nach oben geschickt. Es kamen Inschenöre, Gutachter für Hoch-/Tief- und Quer- bau, Projektmanager mit bauphysikalischem Background und viele Experten. Sogar besonders viele.
Einen dieser Experten habe ich nach dem Verhalten der maroden Mauer befragt: „Ist es nicht gefährlich, wenn auf meiner Terrasse Kinder spielen und die Mauer fällt um?“ Doch der Experte schüttelte das Haupthaar und seine Im- plantate strahlten mir entgegen: „Keine Angst, die fällt
nicht um, die rutscht nur weg!“ „Ach so“, antwortete ich erleichtert, „dann bin ich beruhigt, Kinder rutschen ja gern!“
Wie weit sie letztendlich rutscht, ist von den Experten noch nicht zweifelsfrei beurteilt, aber ich vermute, dass die Bes- sunger demnächst nicht mehr die steilen Wege auf den Hausberg gehen müssen, sondern direkt vor der Brunnebitt die Aussichtsterrasse besuchen können (Hauptsache sie bleibt in Bessungen). Man überdruckt dann nur auf den Ansichtskarten das Wort Aussicht – und schon passt’s!
Städtische Kümmerer
Jetzt aber, nach vielen Einwänden eines rührigen Vereins namens BBL, sehe ich ein Lichtlein am Ende des beschriebe- nen Lochs. Eine junge Dame aus dem hohen Norden Hes- sens hat zuerst in der Wissenschaftsstadt Fuß und dann einen Entschluss gefasst. Sie will sich kümmern! Nun kenne ich ja seit vielen Jahren schon die städtischen Kümmerer (die haben ein eigenes Dezernat), aber diese junge Dame hat einen positiven Eindruck hinterlassen.
Ihr Vorteil: Sie hat alle ihre Parteibücher verbrannt – und ist neutral (das muss sie ihrem Chef aber erst erklären). Ihr Nachteil: Bevor sie den Weg zur Ludwigshöhe fand, hat sie sich erst einmal in der Heimstättensiedlung verfahren (der Schreck sitzt ihr heute noch in den Knochen).
Und mein Vorurteil: Als ich ihren Namen zum ersten Mal hörte, dachte ich, der kommt von „Zischen!“, also Zischen = oberhessisch Zuschke! Aber schon der Vorname „Corrrne- lia“, nach der Märtyrin die Heilige Cornelia, hat alles wie- der ins Lot gerückt.
Und nach meinem Vorsatz, die Hoffnung stirbt zuletzt, hofft Cornelia nun auch, dass der städtische Kassenverwalter, Herr Schuldenberg, Entschuldigung: Schellenberg, kein Loch in seiner Kasse hat, sondern dem Loch und den Mauerris- sen auf meiner Terrasse Einhalt gebietet.
Die Bessunger gehen nämlich gerne die steilen Wege zu ihrem Hausberg.
35


































































































   35   36   37   38   39